Moderne
Mathematik im islamischen Mittelalter
Islamische Architektur zeigt schon im 15. Jahrhundert Muster, deren
zugrunde liegende Mathematik der Westen erst Ende des 20.
Jahrhunderts entwickelt hat
Manchmal zahlt es sich aus, mit offenen Augen durch die Welt zu
spazieren. Peter Lu, Physik-Doktorand an der Harvard-Universität in
Cambridge, hatte vor zwei Jahren schon entdeckt, dass in China
bereits vor 2500 Jahren komplizierte Maschinen zur
Schmuckbearbeitung eingesetzt wurden. Nun hat sein Doktorvater David
Weitz vermutlich erneut Gelegenheit, sich über die langsame
Fertigstellung von Lus Dissertation zu beschweren.
Denn dem Elite-Absolvent waren bei einer Reise durch Usbekistan
interessante Muster aufgefallen: "An der Seite eines Gebäudes in
Buchara sah ich ein Muster mit sich wiederholenden zehneckigen
Sternen", beschreibt Lu das Erlebnis gegenüber Telepolis:
Das brachte mich darauf, dass irgendwo in der islamischen
Architektur womöglich auch quasikristalline Muster zu finden sein
müssten. Also begann ich nach meiner Rückkehr nach Harvard danach zu
suchen.
Girih-Muster in einem Durchgang des
Sultanssitzes in Bursa (Türkei), 1424 enstanden |
Das Ergebnis ist in der Ausgabe
des Wissenschaftsmagazins Science nachzulesen - und es könnte
bisherige Vorstellungen über den Stand der Mathematik in der
islamischen Welt auf den Kopf stellen. Was Peter Lu und sein Kollege
Paul Steinhardt entdeckt haben, ist die praktische Entstehungsweise
ganz besonderer Muster, so genannter Penrose-Parkette. Das sind
unendliche, sich aber nie wiederholende Muster, die sich aus nur
zwei Grundformen konstruieren lassen. Der britische Physiker Roger
Penrose fand diese Grundformen, "Pfeil" und "Drachen" genannt, in
den 70-er Jahren.
Islamischen Künstlern waren sie womöglich schon 500 Jahre früher
bekannt - das schlussfolgern Lu und Steinhardt jedenfalls in ihrem
Science-Artikel. Die beiden Forscher untersuchten die in der
islamischen Architektur rege verwendeten, so genannten Girih-Muster.
Bisher war man davon ausgegangen, dass diese von den Künstlern mit
Lineal und Zirkel erzeugt worden waren. Sehr komplexe Muster lassen
sich auf diese Weise in der Praxis allerdings kaum herstellen - und
davon fanden Lu und Steinhardt in der mittelalterlichen islamischen
Architektur eine Menge: Muster aus Hunderten von Zehnecken nämlich,
die ihre Struktur auf verschiedenen Größenskalen wiederholten.
Zumindest geometrische Abweichungen hätten bei derartigen
Konstruktionsarbeiten entstehen sollen - doch die sind nicht
festzustellen.
Dieser 1453 entstandene Durchgang im
Darb-i Imam-Schrein in Isfahan (Iran) zeigt zwei
überlappende Girih-Muster.
Rekonstruktion der oben abgebildeten
Muster mit Hilfe von Girih-Kacheln |
Daraus leiten die Forscher ab,
dass die damaligen Künstler ungefähr ab dem 12. Jahrhundert auf eine
neue Methode umgestellt haben müssen - unter Verwendung von fünf
Grundschablonen, die die Wissenschaftler in ihrer Arbeit
Girih-Kacheln nennen. Diese Formen waren mit dem für die
entsprechende Zeit bekannten mathematischen Wissen zu konstruieren -
und von jedem Handwerker ohne Mathe-Kenntnisse zu benutzen.
Sie führten
aber ein ganzes Stück weiter: Zu den oben schon beschriebenen
Penrose-Parketten nämlich. Bis dahin dauerte es allerdings noch drei
Jahrhunderte: im 15. Jahrhundert begannen die Künstler
selbstähnliche Transformationen einzusetzen, bei denen Muster in
Untermuster zerlegt werden, die man (vergrößert) für das eigentliche
Muster halten könnte. Kombiniert man derartige Unterteilungen mit
einer dekagonalen Symmetrie, lassen sich die besagten
quasi-kristallinen Muster konstruieren.
Girih-Muster aus dem
Seljuk-Mama-Hatun-Mausoleum in Tercan (Türkei, ungefähr 1200
errichtet), mit überlagerter Rekonstruktion aus
Girih-Schablonen (Bild: Science) |
Quasi-kristallin heißen diese Strukturen, weil sie keine gültige
Kristallstruktur darstellen. Sie sind gewissermaßen in einer Weise
symmetrisch, bei der der Symmetriefaktor eine irrationale Zahl ist.
Offen ist allerdings noch, das geben Lu und Steinhardt am Ende ihrer
Arbeit zu, die Frage, wer die Girih-Muster damals entworfen hat. Zu
ergänzen wäre, dass auch von den anscheinend über Jahrhunderte
genutzten Schablonen bisher keine Überreste gefunden wurden - es sei
denn, man hat diese bisher nur noch nicht als Girih-Kacheln
identifiziert.
tp
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